Das Internet als „alltagsgestaltende Affektmaschine“

Herausforderungen für die Pädagogik

Der Beitrag skizziert den gesellschaftsgestaltenden Einfluss digitaler Medien. Und er fragt nach den Antworten der Pädagogik auf Phänomene wie die „mobile Hyperkonnektivität“ oder eine digital vermittelte Auflösung kultureller Identitäten.

Von Achim Halfmann

Nie zuvor wurde im Bildungskontext so viel und so ausführlich über Medien diskutiert wie in den Monaten des Corona-Pandemie bedingten Distanzunterrichts. Lernplattformen (LMS – Learning Management Systems) wie Moodle wurden auch an den Schulen eingeführt, die darauf zuvor verzichteten. Und Videounterricht via Teams, Zoom, Jitsi Meet oder andere Plattformen wird zur Alltagserfahrung. Die Diskussion bleibt dabei allerdings häufig in eher technischen Fragen verhaftet – etwa nach der Performanz digitaler Plattformen. Eine Reflexion der zentralen Bedeutung digitaler Medien für fast alle Lebensbereiche und die Frage nach der Antwort der Bildungsakteure bleiben außen vor.

„Medien“ und „Bildung“ stehen in der Unterrichtspraxis in einem alltäglichen Zusammenhang. Viel stärker als „klassische“ Medien verlassen digitale die Klassenräume und begleiten Menschen auf dem Smartphone „24/7“, sie bieten einer scheinbar unendlichen Zahl von Personen, Meinungen und Inhalten eine Plattform und sie fordern unsere Interaktion – zumindest ab und zu ein „Like“ für den einen oder anderen Internetpost. Viele Alltagshandlungen sind heute mit dem Gebrauch digitaler Medien verknüpft – vom Einkaufen bis zum Fotografieren. „Ohne also in eine Totalisierung der digitalen Welt zu verfallen, kann man feststellen, dass sie zur Transformation der Kultursphäre in entscheidender Weise beiträgt.“ (Reckwitz 2017, Pos. 3939)

Digitale Medien als Weltgestalter

Digitale Medien vermitteln uns nicht nur die Welt, sondern sie gestalten unseren Alltag – die Art und Weise, wie wir kommunizieren, konsumieren, arbeiten und unser gesellschaftliches Leben gestalten. Marshall McLuhan brachte das bereits 1964 auf die bekannte Formel „The medium is the message“ (McLuhan 1964/2013, Abs. 1). Es sind also nicht nur die medial vermittelten Inhalte, die unser Leben prägen, sondern es ist die Struktur dieser Medien selbst:

Die „mobile Hyperkonnektivität“ – nämlich via Smartphone überall erreichbar zu sein – prägt unsere Bedürfnisse nach sozialer Anerkennung dahingehend, dass wir diese mit dem ständigen Blick auf die Likes zu unseren Posts bei YouTube oder Facebook zu befriedigen suchen. Und da wir nichts verpassen und nicht aus Kommunikationskreisläufen ausgeschlossen werden wollen, leben wir mit einer neuen Form von sozialem Stress: mit FOMO, der Fear Of Missing Out (Rainie/Wellman 2012, Abs. 4).

Zugleich fördern soziale Medien – auf dem Hintergrund des von manchen so empfundenen Performance-Zwangs auf digitalen Plattformen – die Verwischung der Grenzen zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten. „Etwas grob formuliert: Die neuen Medien verwandeln das Persönliche und Private in etwas Öffentliches oder zumindest Halböffentliches.“ (Reckwitz 2017, Pos. 4016)

Für die Befriedigung unserer Konsumbedürfnisse brauchen wir die Coach nicht mehr zu verlassen. Der Lockdown während der Corona-Pandemie hat den Trend zum Einkauf auf Online-Plattformen wie Amazon oder Lieferando zusätzlich verstärkt. Entsprechend verlagern sich Tendenzen der Kaufsucht in den virtuellen Bereich oder dort entsteht erst ein Kaufverhalten, dass von gedanklicher Eingenommenheit beim Recherchieren und Vergleichen sowie vom Kontrollverlust bei Kaufentscheidungen geprägt ist (Müller/Wölfling 2017, S. 60).

Ohne Frage haben digitale Technologien die Wirtschaft umgekrempelt. „Mit Digitaltechnik werden heute praktisch alle Bereiche technisch gesteuert, die für Wirtschaft, Wissenschaft und öffentliches sowie privates Leben essenziell sind: Sicherheit, Gesundheit, Energieversorgung, Produktion, Mobilität, Kommunikation und Medien.“ (Neugebauer 2018, Abs. 1.4) Forschungs- und Entwicklungsergebnisse werden durch die weltweit vernetzte Kollaboration von Wissenschaftlern und Maschinen in zunehmender Geschwindigkeit erzielt.

Und nicht zuletzt sind digitale Medien an der Gestaltung politischer Wirklichkeiten beteiligt, was etwa beim Sturm auf das Kapitol in Washington im Januar 2021 – kurz vor der Amtseinführung des amerikanischen Präsidenten Joe Biden – deutlich wurde. Über Jahre hatte sein Amtsvorgänger in seinem Twitter-Feed „alternative Fakten“ angeboten – zuletzt insbesondere die Erzählung von der gestohlenen Wahl. Das hatte seine treusten Anhänger mobilisiert und schließlich zu dem Angriff auf eine zentrale demokratische Institution beigetragen.

Wer Informationen und soziale Bestätigung vorwiegend aus Social Media zieht, dem bieten deren Algorithmen vor allem solche Posts an, die unter seinen digitalen Freunden beliebt sind. De Facto stärkt die digitale Medienwelt den politischen Diskurs nicht, sondern sie schadet ihm. „Aus den erträumten (rationalen) Diskursräumen sind maximal Resonanzräume geworden, deren Betreten meist emotional motiviert und von der Hoffnung begleitet ist, dort Zustimmung zu bekommen. Und die hauptsächliche Emotion ist hier nicht Sorge, Anteilnahme oder Freude, nicht selten gibt Wut den Ton an.“ (Beschorner 2019, S. 121)

Digitale Medien für eine globale säkulare Welt

Angesichts der Omnipräsenz digitaler Medien in allen Lebensbereichen (Kerres 2012, Abs. 5.2.1) wird diesen mitunter revolutionäres Potential zugesprochen. Allerdings sind diese Medien und Technologien wohl eher Teil – und mitunter Ermöglicher und Beschleuniger – globaler gesellschaftlicher Entwicklungen (Rainie/Wellman 2012, Abs. 2):

  • Automobile und Flugzeuge erleichtern das (weltweite) Reisen.
  • Das politische Klima fördert globalen Handel und weltweites Reisen.
  • Veränderte Familienkompositionen haben Haushalte in Netzwerke (mit Wandlungspotential) verwandelt.
  • Gesellschaftliche Organisationen – auch die religiösen – werden zu offenen Netzwerken. Arbeit und Arbeitsverhältnisse werden flexibler.
  • In westlichen Gesellschaften verlieren Ethnie, Geschlecht und Religion an Bindungskraft.
  • Und die wirtschaftliche Absicherung wird zunehmend dem Einzelnen überlassen.

Ähnliches gilt für den Prozess der Säkularisierung: Stalder macht für das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts drei zunehmend bedeutsame säkulare Tendenzen aus: die Ausbreitung der Wissensökonomie, die Erosion der Heteronormativität und den Postkolonialismus mit einer Vermischung globaler Kulturen. „Die Muster und kulturellen Grundlagen dieser Prozesse entwickelten sich meist lange vor dem Internet. Durch die Nutzung des und die Erfahrungen im Umgang mit dem Internet haben sie allerdings sehr viel größere Teile aller Gesellschaften erfasst.“ (Stalder 2016, Pos. 687)

Büsch (2019) weist digitalen Medien selbst transzendente Eigenschaften zu. Algorithmizität, Big Data und computerbasierte Intelligenz übersteigen deutlich den Einflussbereich eines Einzelnen. „Daher müssen Individuen zum Beispiel die Ergebnisse eines Such-, Empfehlungs- oder Scoring-Algorithmus zunächst einmal ‚glauben‘ … Und letztlich resultiert daraus vielleicht sogar ein Glauben an Algorithmen, weil ihre Ergebnisse die Befriedigung subjektiver Bedürfnisse leisten.“ (Bünsch 2019, S. 15)

Digitale Medien für die Wissensgesellschaft

Ohne Zweifel besitzen digitale Medien für unsere gerne „Wissensgesellschaft“ genannte Gegenwart eine zentrale Bedeutung. Stalder (2016, Pos. 109 ff.) stellt drei zentrale Merkmale einer „Kultur der Digitalität“ heraus:

Referentialität als die Nutzung, Weiterentwicklung und Umgestaltung bestehenden kulturellen Materials (etwa der Remix von Musiktiteln);

Gemeinschaftlichkeit als kollektiver Referenzrahmen, der Handlungsoptionen generiert und Ressourcen zugänglich macht (ein gutes Beispiel bietet die Wikipedia);

Algorithmizität als automatisierte Entscheidungsverfahren, durch die sich aus schier unendlichen Datenmengen Informationen gewinnen lassen (Solche Algorithmen werden beim „Googeln“ erlebbar: Sie entscheiden, welche Informationen auf den ersten Seiten der Suchergebnisse erscheinen und damit für uns sichtbar werden – und welche auf Seite 210 für immer verborgen bleiben).

„Big Data“ bezeichnet die unfassbar großen Datenmengen, die digital erzeugt, übertragen, gespeichert und ausgewertet werden können. „Einige Hochrechnungen gehen davon aus, dass sich die weltweit pro Jahr erzeugte Datenmenge bis 2025 gegenüber 2016 verzehnfachen und auf 163 Zettabyte (eine 163 mit 21 Nullen oder 41.000 Mrd. DVDs) ansteigen könnte.“ (Hippmann et.al.2018, Pos. 780) Die Schnelligkeit der Verarbeitung dieser Daten ermöglicht – etwa über Auswertungen des Social Media-Verhaltens – den „gläsernen Verbraucher“. Im Bildungskontext werden die digitale Datenerhebung und -auswertung unter dem Begriff „Learning Analytics“ diskutiert. „Das Bild des ‚gläsernen Lerners‘ drängt sich auf – die Fragen des Datenschutzes und der Persönlichkeitsrechte müssen bedacht werden“ (Arnold 2014, S. 39)

Bei der Erarbeitung von Wissen können digitale Medien als Werkzeuge des Verstandes verstanden werden. Informationstechnologien bringen dabei nach Issa et.al. (2016, Einleitung) eine intellektuelle Ethik mit sich, nämlich Grundannahmen über die Natur unseres Wissens und unseres Verstandes. Digitale Medien fördern danach weder unsere Aufmerksamkeit noch kontemplative Beobachtung oder reflektiertes Denken, sondern das schnelle und bruchstückhafte Sammeln kleiner Informationshappen – ausgerichtet an einer Ethik der Geschwindigkeit und Effektivität. „Now the Internet is remaking us in its own image; we are becoming ‘the shallows’.” (ebd.)

Reckwitz relativiert zudem die These von einer digital gestützten Wissensgesellschaft: „Das Internet ist zu erheblichen Teilen eine Affektmaschine. Seine zirkulierenden Bestandteile erregen, unterhalten, stimmen freudig, entspannen, hetzen auf oder bewirken, dass man sich angenehm aufgehoben fühlt.“ (2017, Pos. 3962)

Nicht zuletzt ist es die hohe Anzahl an Bildern und Videos im Internet, die zu dessen Wirkung als Affektmaschine beitragen. „Die digitale Kultur ist in erheblichem Maße eine Kultur der Visualität. … Bilder dominieren die Nachrichten aus Politik, Sport und Unterhaltung, pornografische Darstellungen werden in großer Zahl präsentiert, aber auch das Streaming von Fernsehsendungen und Filmen ist hier zu nennen. Diese Bilder haben nur sekundär einen Informations-, primär hingegen einen Affektcharakter“ (Reckwitz 2017, Pos. 3969). Während unser Bildungssystem der Beherrschung der Schriftsprache (Literacy) einen hohen Wert zuweist, steht die Bildkompetenz (Visual Literacy) nicht im Fokus.

Digitale Bildung: Medienpädagogik und Mediendidaktik

Digitale Bildung zielt auf die Vermittlung von Kompetenzen für das Leben in einer zunehmend digital geprägten Welt. Als Medienpädagogik stellt sie die Frage, welche Werte, Fähigkeiten und Fertigkeiten für die Integration der Mediennutzung in das eigene Leben und für die aktive Partizipation an der Mediengestaltung förderlich sind. Sie hat dabei die hohe Bedeutung der Begegnungen in sozialen Medien für die Identitätsentwicklung von Kindern und Jugendlichen im Blick, beispielsweise:

  • Wie bleibt das Private privat und das Öffentliche öffentlich? Wie konfiguriere ich dazu meinen Social-Media-Account und wie gestalte ich meinen Auftritt dort?
  • Was zeichnet eine wertschätzende Bildkommunikation aus? Mit welchen Bildern präsentiere ich mich dort?
  • Woran erkenn ich die Vertrauenswürdigkeit von Informationen im Internet – und die Absichten von deren Verbreitern?
  • Wie reagiere ich auf Hate Posts und Internet-Mobbing?
  • Wodurch kann ich beeinflussen, welche meiner Daten im Interneterfasst und verarbeitet werden?

Der Mediendidaktik geht es um Fragen des Medieneinsatzes zur Förderung von Bildungsprozessen, beispielsweise:

  • Was fördert die Motivation von Lernenden in längeren Distanzunterrichtsphasen?
  • Wodurch fördern digitale Medien reflexives und kollaboratives Lernen?
  • Wie werden digitale Lernräume bildungsförderlich gestaltet?
  • Womit lässt sich die Entwicklung von Recherchetechniken fördern, die über das „schnelle und bruchstückhafte Sammeln kleiner Informationshappen“ hinausgehen?
  • Wie lässt sich eine Videopräsentation interaktiv gestalten?

Die Ausgangsfrage sollte dabei sein: Welche didaktisch-methodischen Möglichkeiten bieten digitale Medien, die über diejenigen der klassischen Medien hinausgehen?

Die oben skizzierten gesellschaftlich-technologischen Veränderungen fordern auch eine Antwort christlicher Bildungsträger und Pädagogen heraus. Zwei Beispiele:

In einer zunehmend digitalen Welt schwindet der Einfluss Orientierung vermittelnder Gruppen und sozialer Umwelten schnell. Die Orientierungsfähigkeit des Einzelnen ist gefragt – der dabei einer Vielzahl möglicher und „unmöglicher“ Denk- und Lebensstile begegnet. Daher erscheint es sinnvoll, solche Auseinandersetzungen – soweit und so intensiv wie möglich – bereits in unseren Bildungseinrichtungen zu beginnen und sie so zu begleiten. Ein „Protektionismus“ hat endgültig ausgedient.

Wenn es in der digitalen Welt an etwas fehlt, dann ist das Wertschätzung: für das Unvollkommene, das Ehrliche, für das Mittelmäßige und für den Menschen, der mit den Gesetzmäßigkeiten des digitalen Raumes wenig vertraut ist. Wertschätzung für den Menschen und die Schöpfung in Bilder und in Worten. Es geht um Alternativen zu Shitstorms, Affekthascherei und einen rein konsumtiven Umgang mit Internetinhalten. Unterricht und Lehre bieten zahlreiche Gelegenheiten, eine wertschätzende digitale Kommunikation vorzuleben.

Literatur

  • Arnold, Patricia (2014): Evaluation von E-Learning. Rostock: Universität Rostock
  • Beschorner, Thomas (2019): In schwindelerregender Gesellschaft. Gleichgewichtsstörungen der modernen Welt. Hamburg: Murmann.
  • Büsch, Andreas (2019): Religion, Gesellschaft und Medien(pädagogik). Anmerkungen zu einem spannungsreichen Verhältnis. In: merz medien+erziehung 63 (3), S. 10–16.
  • Hippmann, Sophie; Klingner, Raoul; Leis, Miriam: Digitalisierung – Anwendungsfelder und Forschungsziele. In: Neugebauer, Reimund (Hg.) (2018): Digitalisierung. Schlüsseltechnologien für Wirtschaft und Gesellschaft. eBook. Berlin, Heidelberg: Springer Vieweg, Abs. 2
  • Issa, Tomayess; Isaias, Pedro; Kommers, Piet A. M. (Hg.) (2016): Social Networking and Education. Global Perspectives. eBook. 2016. Cham: Springer
  • Kerres, Michael (2012): Mediendidaktik. Konzeption und Entwicklung mediengestützter Lernangebote. eBook. 3. Aufl. München: Oldenbourg.  
  • McLuhan, Marshall (2013 – Erstveröffentlichung 1964): Understanding media. The extensions of man. eBook. Berkeley, California: Gingko Press.
  • Müller, Kai W.; Wölfling, Klaus (2017): Pathologischer Mediengebrauch und Internetsucht. eBook. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.
  • Neugebauer, Reimund (Hg.) (2018): Digitalisierung. Schlüsseltechnologien für Wirtschaft und Gesellschaft. eBook. Berlin, Heidelberg: Springer Vieweg
  • Rainie, Harrison Lee; Wellman, Barry (2012): Networked. The new social operating system. eBook. Cambridge, Mass.: MIT Press.
  • Reckwitz, Andreas (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. eBook. 3. Auflage. Berlin: Suhrkamp.
  • Stalder, Felix (2016): Kultur der Digitalität. eBook. Berlin: Suhrkamp

Der Beitrag ist erschienen in: Glaube + Erziehung. 73. Jg. Nr. 2 April 2021

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