Das deutsche Gesundheitssystem gilt oft als Vorbild für andere. Aber in puncto Digitalisierung schneidet es schlecht ab. Während anderswo digitale Rezepte ausgestellt werden und Patienten ihre Daten elektronisch verwalten, geht hier alles nur papierhaft und kostenintensiv. Was aber digital möglich und nötig ist, zeigt unser Einblick.
Von Tong-Jin Smith
Die elektronische Gesundheitskarte kennt jeder. Sie ist ein gutes Beispiel für Anwendungen, die für eine medizinische Versorgung digitale Informations- und Kommunikationstechnologien nutzen – neudeutsch: E-Health. Zu den aktuellen Trends zählen Wearables und das Internet der Dinge. So sind Sportuhren, die sich mit mobilen Apps verbinden und jeden Schritt und Tritt des Trägers überwachen, so beliebt wie klassische Uhren. Auch Sprach- und Chatbots für automatisierte und sprachbasierte Interaktionen mit Patienten sind im Kommen, etwa in der Altenpflege oder bei der Überwachung von Menschen mit chronischen Erkrankungen. Künstliche Intelligenz, Augmented Reality und Blockchain finden ebenfalls ihren Weg ins Gesundheitssystem. Nur nicht in Deutschland.
Vertrauen fehlt
„Während in unseren Nachbarstaaten digitale Rezepte, elektronische Patientenakten, Telemonitoring und Video-Sprechstunden längst zum medizinischen Alltag gehören, herrscht in Deutschland noch immer der Informationsaustausch über Papier vor. Digitale Technologien sind nicht im Alltag der Patienten angekommen“, sagt Michael Burkhart, Leiter des Bereichs Gesundheitswirtschaft bei PwC Deutschland. Im internationalen Vergleich sei Deutschland abgehängt. Entsprechend sei auch das Vertrauen in das Gesundheitssystem niedrig, wie eine aktuelle PwC-Studie belegt. Dabei könnten durch eine konsequente Umsetzung digitaler Angebote viele Probleme im Gesundheitswesen gelöst werden. Durch den Einsatz digitaler Technologien könne man etwa die Patientensicherheit und Behandlungsqualität steigern, gleichzeitig aber Kosten senken, so Burkhart.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kam 2018 die Forschungsgesellschaft empirica, die im Auftrag der Bertelsmann Stiftung die Gesundheitssysteme von 17 Ländern in puncto Digitalisierung untersucht hat. Auf dem Digital-Health-Index sind unter anderem Estland, Kanada und Dänemark die Spitzenreiter, während die Schweiz, Frankreich, Deutschland und Polen die letzten Plätze belegen. Hier fehle es an einer effektiven Strategie, politischer Führung und einer koordinierenden Institution auf nationaler Ebene, die sich um technische Standards und Datenformate kümmert.
Während in Dänemark alle Bürger die Ergebnisse ihrer Untersuchungen, Medikationspläne oder Impfdaten online einsehen und quasi mit einem Klick ihren Ärzten Einsicht gewähren können, muss man in Deutschland mühsam Diagnosen und Röntgenaufnahmen analog einfordern und von Arzt zu Arzt tragen.Wer den Papierkrieg vermeiden will, muss selbst aktiv werden und hoffen, dass die behandelnden Ärzte mitspielen. Denn einfach eine Email mit Befunden oder Labordaten verschicken, ist nach aktuellen Datenschutzbestimmungen für deutsche Ärzte nicht möglich.
Schmerztagebuch mit DoctorBox
In Ermangelung einer standardisierten digitalen Gesundheitsakte suchen mündige Patienten nach Lösungen auf dem freien Markt. Eine davon ist die App von DoctorBox, einem Berliner Start-up, das von Orthopäde Oliver Miltner und Investmentbanker Stefan Heilmann gegründet wurde. Mit der App kann man Befunde, MRT- und Röntgenbilder, Rechnungen, Fotos, Audiodateien, Medikamente und Arzttermine verwalten und sogar ein persönliches Schmerztagebuch führen. Alle Daten werden verschlüsselt und können entweder auf dem Handy abgespeichert werden oder in einer zertifizierten Cloud auf deutschen Servern. Patienten könnten somit selbst entscheiden, wer in die digitale Akte schauen darf, so die Gründer. Damit sei man mit seinen Ärzten auf Augenhöhe und erspare sich im Zweifel überflüssige Mehrfachuntersuchungen und unangenehme Wechselwirkungen zwischen Medikamenten.
Hilfe für Allergiker
Gerade letzteres stellt ein erhebliches Problem dar, wie die Klinik der Universität Heidelberg ermittelt hat. Bei rund 1.300 zugelassenen Wirkstoffen, von denen man weiß, dass sie miteinander reagieren, sind rechnerisch 885.000 Wechselwirkungen möglich. Wer hat das schon auf dem Schirm? Ganz zu schweigen von Lebensmitteln, die die Wirkweise von Medikamenten beeinflussen können, oder potenziellen Allergenen, die sich in Arzneimitteln und Naturprodukten verstecken. „In Deutschland sind rund 30 Prozent der Erwachsenenbevölkerung und ein Viertel der Kinder von Allergien getroffen“, sagt Torsten Zuberbier, Leiter der europäischen Allergienstiftung ECARF. „Den gut 25 Millionen Betroffenen stehen aber nur etwas mehr als 5.000 ausgebildete Allergologen gegenüber. Dieses Ungleichgewicht führt dazu, dass viele Patientinnen und Patienten bei Therapie und Behandlung auf sich gestellt sind.“
Dabei stelle jede undiagnostizierte und unbehandelte Allergie nicht nur eine persönliche Leidensgeschichte dar, sondern auch eine vermeidbare Belastung für die Gesellschaft. So verursache etwa ein Heuschnupfenpatient direkte und indirekte Kosten für Behandlungen oder durch Arbeitsausfälle von bis zu 1.545 Euro pro Jahr. Bleibt die Allergie unbehandelt, kann es zu allergischem Asthma kommen – in der Medizin spricht man vom „Etagenwechsel“ – und die Kosten steigen auf das Sechsfache.
„Würden europaweit Allergien also richtig behandelt, könnte die Solidargemeinschaft bis zu 84 Milliarden Euro an Gesundheitskosten pro Jahr einsparen“, so Zuberbier. „Digital Health und Apps werden in der Zukunft bei der Betreuung und Unterstützung von Patienten eine wichtige Rolle spielen. Für Menschen mit Atemwegserkrankungen gibt es bereits die App Mask-air, aber für das große, ungelöste Problem Lebensmittelallergien noch nichts.“ Zwar müssten in Europa die 14 Hauptallergene auf Lebensmittelverpackungen deklariert werden, aber durch die Verwendung unterschiedlicher Bezeichnungen sei das oft verwirrend. „Der Traum vieler Allergologen wäre eine App, die ihren Patienten schon beim Einkaufen ‚ja‘ oder ‚nein‘ sagen kann“, so Zuberbier.
Zuverlässige Infos mit FoodWise
Genau hier setzt ein weiteres Berliner Start-up, Health & Wise, an. Inspiriert von der Geschichte eines Freundes, der nach jahrelanger Odyssee durch Arztpraxen erfahren hat, dass er Allergiker ist und nun beim Einkaufen immer das Kleingedruckte lesen muss, um keine bösen Überraschungen zu erleben, hat Urs Kuckertz die Idee zur App FoodWise entwickelt. „Allergien sind eine Zivilisationskrankheit“, sagt er. „Fast jeder kennt jemanden, der Unverträglichkeiten oder Allergien hat, ausgelöst durch Nüsse, Milch oder Konservierungsmittel. Aber beim Einkaufen hat man nicht immer die Zeit oder Geduld, sich die Zutatenlisten genau durchzulesen. Und wenn man im Ausland ist, wird es noch schwieriger.“
Existierende Einkaufs-Apps seien nicht verlässlich, weil sie in der Regel nur den Barcode scannen. Die Fehlerquote liege da bei fast 50 Prozent. „Wir arbeiten daher textbasiert“, so Kuckertz. „Das macht die Entwicklung komplexer, weil unsere App nicht nur mit jeder Smartphone-Kamera funktionieren soll, sondern auch Text in verschiedenen Sprachen auf hochglänzenden und unregelmäßigen Oberflächen erkennen und verstehen muss.“ Im nächsten Schritt sollen dann neben den 14 häufigsten Allergenen auch Zusatzstoffe, die mit E-Nummern gekennzeichnet werden, die Inhaltsstoffe in Kosmetikprodukten – die sogenannten INCI – sowie Freitextangaben integriert werden. „Viele Menschen haben nicht nur Lebensmittel-, sondern auch Kontaktallergien. Meine Frau zum Beispiel,“ sagt Kuckertz. „Für sie wäre eine App, mit der sie alle Produkte abdecken kann, eine echte Hilfe.“
Investmentfreude fehlt
Bis die App und ihre möglichen Big Data-Anwendungen allerdings marktreif sind, wird es noch dauern. Die Entwicklungskosten seien aufgrund der komplexen Aufgabenstellung hoch, die Investmenfreude im E-Health-Bereich aber zurückhaltend, so Kuckertz. „Insgesamt erhalten wir auf unser Vorhaben immer ein positives Feedback, aber Investoren trauen sich oft nicht, Seed-Investments zu tätigen. Entsprechend risikoscheu sind sie mit ihren Investments in E-Health. Das Phänomen kennt man aber auch in anderen Branchen, wo Start-ups als Disruptoren oder Innovatoren auftreten.“ Insofern wünscht er sich von der Politik mehr Impulse und bessere Rahmenbedingungen für E-Health-Entwicklungen. So begrüßt er den Vorstoß von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), im Rahmen des Digitalen-Versorgungs-Gesetzes Apps auf Rezept zu ermöglichen. „Das kann zu einer höheren Akzeptanz von E-Health-Lösungen führen, die letztendlich zur Patientenmündigkeit beitragen und noch dazu Kosten im Gesundheitssystem senken.“
Aber das wird nach Ansicht des Geschäftsführers der Health & Wise GmbH nicht reichen, um E-Health fest im deutschen Gesundheitssystem zu verankern. „Viele digitale Lösungen erfordern eine gute Vernetzung verschiedener Akteure und eine Menge Kapital, um die Entwicklungskosten abzudecken. Oft bewegt man sich hier auf technischem Neuland, wo man vieles ausprobieren muss, um am Ende die nötige Sicherheit in der Datenverarbeitung anzubieten. Wir sprechen hier schließlich von Gesundheit und nicht von irgendeinem Daddelspiel.“ Höchste Zeit, den vom Bundesgesundheitsministerium angedachten „DigitalPakt Gesundheit“ auf den Weg zu bringen, um Akteure zu vernetzen, Standards zu entwickeln und vor allem mit Fördergeldern den Sprung unter die digitalen Vorreiter zu schaffen.
Dr. Tong-Jin Smith
ist Hochschuldozentin und freie Journalistin. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.
„Die digitale Transformation des Gesundheitswesens“ von Tong-Jin Smith ist erschienen im CSR MAGAZIN Nr. 33. Der Text ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz.