Die Digitalisierung verändert die Welt, Schritt für Schritt, unaufhaltsam, immer schneller. Diese Veränderungen bringen Chancen und Risiken mit sich, erfordern Innovationen, wecken aber auch Ängste in einer Umwelt, die sich durch Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität (im Folgenden als VUCA benannt) auszeichnet. Die VUCA-Umwelt bedarf eines schnellen und flexiblen Agierens und Reagierens der Unternehmen in einer komplexen Welt. Für deren Führungskräfte sind die erwähnten Gesichtspunkte höchst relevant, denn sie erfordern eine Anpassung im Rahmen der digitalen Transformation.
Von Saboor Jamil
Vor allem die belastende Corona-Pandemie hat die Notwendigkeit einer digital-transformativen Umstellung in der Gesellschaft aufgezeigt und gleichzeitig eine Bedarfslücke geschaffen, die von Seiten des Digital Leaderships sozial nachhaltig zu schließen ist. Aufgrund der Pandemie arbeiten sehr viele Beschäftigte im Homeoffice. Für alle im Homeoffice Arbeitenden bedeutet dies, dass unterschiedlichen Bedürfnissen zu genügen ist. Es sind die Interessen der eigenen Kinder, die persönlichen Interessen des Arbeitnehmers und diejenigen des Arbeitgebers miteinander zu vereinbaren. Wie aber sollen z. B. die Bedürfnisse eines schreienden Babys und eines zugleich ungehaltenen Chefs abgeglichen werden? So können de facto Konkurrenzverhältnisse entstehen, was insbesondere im Rahmen von Videokonferenzen zutage tritt, wenn die private Welt und die Berufswelt sich überraschend vermischen.
Es gibt weitere Problembereiche wie Datenschutz, Führung auf Distanz und fehlende persönliche Nähe. Dies erfordert in hohem Maße eine Koordination in mehrere Richtungen, die nicht jeder beherrscht und in der Kürze der Zeit ohne Unterstützung auch nicht automatisch beherrschen kann.
Digital transformative Bedarfslücken
Dies ist ein digital transformativer Sprung in der Gesellschaft, der großenteils von Unternehmen nicht mehr rückgängig gemacht werden wird. Ein Abgleich wie der angesprochene wird dauerhaft erforderlich werden, an die Stelle der Geschäftsreisen und der persönlichen Meetings werden weitgehend digitale Kommunikationsformen treten, diese aber andererseits nicht vollständig ersetzen können. Genau in diesem Bereich kann das Digital Leadership der Urheber der sozialen Kompetenzentwicklung werden: Statt eine Work-Life-Balance zu erzielen, gilt es, den Mitarbeiter zu befähigen, sich gleichzeitig dauerhaft und nachhaltig sowohl der Familie als auch dem Arbeitgeber zuzuwenden.
Im Folgenden wird daher beleuchtet, was Digital Leadership genau ist, und der Blick auf die zu entwickelnden Kompetenzen und Tools gerichtet, die es dem Digital Leadership ermöglichen, digital transformative Bedarfslücken zu schließen. Damit sollen Führungskräfte und Unternehmen den Mitarbeitern diese beiderseitige Zuwendungsaufgabe vermitteln und diese befähigen, beides sozial nachhaltig in einer digital verschmolzenen Welt umsetzen.
Menschen im Mittelpunkt
Wenn von digitaler Transformation die Rede ist, sind damit nicht nur bestimmte Tools oder neue Technologien gemeint. Der digitale Wandel in der Gesellschaft (Makroebene) und damit einhergehend die digitale Transformation von Unternehmen (Mikroebene) können unter den veränderten Bedingungen nur dann erfolgreich sein, wenn der Mensch (unternehmensintern und extern) stets im Mittelpunkt steht. Das heißt, dass der Mensch stets in sich digital immer schneller verändernde Arbeitsprozesse und gleichzeitig in digital transformative soziale Interaktionen eingebunden sein muss.
Führungskräfte können sich aus dem Transformationsprozess nicht ausnehmen und müssen daher ihre spezifische Rolle neu definieren und orientieren. Sie sollten der Veränderung der Gesellschaft (Singularisierung, Pluralisierung) und damit einhergehend den Bedürfnissen der Beschäftigten, die schließlich einen Teil der Gesellschaft bilden, besondere Aufmerksamkeit schenken. So zeigt sich neben dem transformativen digitalen Sprung innerhalb der Gesellschaft der Trend zu stärkerer Selbstbestimmung und Differenzierung von Lebensstilen. Die Bedürfnisse von Beschäftigten spiegeln ihre Lebensstile und Lebensentwürfe, die einem andauernden Wandlungsprozess unterliegen, und schlagen sich nieder in bestimmten Ansprüchen – wie dem Wunsch nach mehr Mitbestimmung und flexiblen Arbeitszeitregelungen.
Hier ist wiederum die Synthese des Privat- und des Berufslebens zu erwähnen. Die Aufgaben sowie ihre Verteilung und Zuordnung sind in dem Zusammenhang der stattfindenden Veränderungen neu zu reflektieren. Flexibilität in der Arbeit und den besonderen Arbeitsformen und eine hohe Mobilität sind hierfür erforderlich. Traditionelle Arbeitsprozesse bzw. Strategien sind zu überführen in digitale Konzepte, was selbstredend ganz andere neue Tools erfordert, um eben digital kommunizieren zu können.
Die unter den radikal veränderten Bedingungen notwendig gewordene Digitalisierung führt also dazu, dass die Unternehmen und die Arbeitswelt sich ihr anpassen müssen. Wie unter den traditionellen Bedingungen spielen die Führungskräfte hier eine zentrale Rolle, um erfolgreich in und durch das digitale Zeitalter zu navigieren. Alles, was hierbei durchzuführen ist, ist kritisch zu reflektieren, was sowohl die Strategie als auch Ansätze der Führung von Mitarbeitern sowie die auszuwählenden Instrumente betrifft.
Wie können nun Unternehmen diese Maßnahmen der Veränderung so ausgestalten, dass alle Beteiligten in einer digital transformierten Welt motiviert, angstfrei und sozial nachhaltig arbeiten und leben können? Durch Digital Leadership:
Führung im digitalen Zeitalter
Digital Leadership bedeutet Führung im digitalen Zeitalter. Der Begriff meint mehr als nur Mitarbeiterführung, es geht um Menschen (Stakeholder), Geschäftsmodelle, Prozesse und digitale Methoden. Zum einen ist die Vorbereitung auf die arbeitsprozessbezogene Digitalisierung gemeint, zum anderen die Führung in Zeiten der sozial interagierenden Digitalisierung. Die Bedarfslücke, die die digitale Transformation aufmacht, kann durch einen Digital Leader dann erfolgreich gefüllt werden, wenn er die Veränderungen aktiv steuert, beschleunigt und bei allen Beteiligten die Fähigkeit fördert, sozial interaktiv Entscheidungen zu treffen.
Die Aufgabe des Digital Leaders ist es nun, die erforderlichen Veränderungen, Technologien und Methoden in ein Unternehmen einzuführen und zu nutzen, um so die digitale Transformation zu realisieren. Sein Aufgabenfeld umfasst aber auch, diese überhaupt anzuregen sowie agil und unternehmerisch zu denken und zu handeln. Insgesamt fällt ihm die Aufgabe zu, sowohl ein Unternehmen als auch Personen und Teams – unter Berücksichtigung der Bedürfnisse aller Stakeholder und unter Nutzung komplexer Technologien – mit hoher Genauigkeit zu führen. Ferner hat er dafür Sorge zu tragen, dass Möglichkeiten zur Weiterentwicklung erschlossen und genutzt werden, insbesondere in Bezug auf die Mitarbeitenden.
Hierdurch erreicht er oder sie, dass Unternehmensziele, die immer auch gemeinsame Ziele sind, verfolgt werden können. Bei optimalem Verlauf gelingt es der Führungskraft, einen hohen Identifikationsgrad mit den Zielen herbeizuführen, was sie zugleich zu einem die Menschen zusammenführenden Element im Unternehmen macht.
„Beidhändige“ Führungskräfte
Eine erfolgreiche Führungskraft im digitalen Zeitalter benötigt das, was man als „Ambidexterity“ bzw. Beidhändigkeit bezeichnet: Das sind zum einen Managementansätze, die beste Qualität und Effizienz anstreben. Diese setzen mehr auf langfristige Planung, Detailgenauigkeit bzw. Belohnungen zur Steigerung der Motivation ein („Linke Hand“). Zum anderen sind es Managementansätze, die hingegen stärker auf Innovationen, Kreativität, Geschwindigkeit, Identifikation mit der Aufgabe und den Werten, Sinnstiftung und kollaboratives Arbeiten zielen („Rechte Hand“). Die Beidhändigkeit gilt als unabdingbar für das Digital Leadership. Daher sollten Veränderungsprozesse in Zeiten der digitalen Transformation nicht nur technologiebasiert sein, sondern ebenso den Menschen als im Mittelpunkt der Digitalisierung stehend fokussieren.
Führungskräfte müssen in der heutigen Zeit bereit sein, auch als Coach zu fungieren, sich den rasanten Veränderungen anzupassen und ein dazu passendes neues Mindset zu entwickeln. Die Komplexität des hiermit aufgezeigten Tätigkeitsfeldes des Digital Leaders erfordert es, dass dieser eine Vielfalt an Transformationsansätzen wie auch Führungsstilen kennt und anzuwenden vermag, denn dies ist die Voraussetzung dafür, andere Personen zu führen. In Zeiten der digitalen Transformation wird es oftmals erforderlich sein, dass diverse Stile und Elemente zusammenzuführen sind.
In dem Sinne sind das Transformational Leadership und das Responsible Leadership hervorzuheben, die zwar dem klassischen Führungsstil zugehören, aber auch im Rahmen des Digital Leadership erfolgversprechend sind. Transformationale Führung verfolgt das Ziel, die Einstellungen und Werte der Mitarbeitenden aufzugreifen, denen die Führungsperson dann soweit wie möglich in vorbildhafter Weise zu entsprechen versucht, um so zu inspirieren, zu motivieren, eine Leistungssteigerung zu bewirken, sie intellektuell anzuregen und die individuelle Entwicklung der Geführten zu unterstützen.
Responsible Leadership kommt hingegen die Aufgabe zu, die verschiedenen Interessen innerhalb eines Unternehmens aufzugreifen und zusammenzuführen. Dabei sind soziale wie auch wirtschaftliche Aspekte einzubeziehen. Vor dem Hintergrund bestimmter gesellschaftlicher Einflüsse wie sozialer Unsicherheit, Integration von Flüchtlingen, ökologischer Problematik kann die Führungskraft als Gegengewicht auftreten, was deutlich aufzeigt, dass sie hiermit fortwährend sozial und ökologisch Verantwortung übernehmen muss.
Diese Rolle gilt es also nicht nur im Hinblick auf Kunden und Aktionäre zu erfüllen, sondern auch und gegebenenfalls sogar stärker hinsichtlich der Mitarbeitenden wie auch der Gesellschaft insgesamt. Digital Leadership könnte in der transformativen Gesellschaft beim sozialen Fortschritt langfristig helfen, Schwächen in der Gesellschaft gemeinsam zu kompensieren. Hierzu bedarf es zeitgemäßer Kompetenzen und Tools unter Berücksichtigung unterschiedlicher Führungsstile.
Kompetenzen und Tools
Wie dargelegt erfordert VUCA durchaus eine möglichst schnelle Realisierung des erforderlichen Wandels. Zugleich muss dies aber mit einem hohen Maß an Empathie stattfinden, da die Realisierung ohne die Berücksichtigung der Wünsche von Mitarbeitenden nicht umsetzbar wäre. Als erfolgreich kann eine solche Führung angesehen werden, die auch auf Distanz gelingt, insofern ja die Führungskraft im Rahmen der Digitalisierung physisch nicht immer anwesend ist.
Die Mittel, dies zu erreichen, bestehen in der Mitarbeiterentwicklung, der individuellen Wertschätzung, sowie der Ermöglichung der Mitbestimmung. Dies alles sind Konstituenzien der Vertrauensbildung, die eine offene Unternehmenskultur ermöglicht. So können Mitarbeitende intrinsisch motiviert werden, was wiederum dazu führt, dass sowohl ihre fachliche Expertise als auch ihre Mündigkeit und ebenso ihre Ideen respektiert und einbezogen werden. Gerade dies sorgt dafür, dass tatsächlich auf Mitarbeitende eingegangen wird.
Auf Seite der Führungskraft sind hierfür emotionale Intelligenz, Selbstreflektion, Inspiration, Wertschätzung und die Fähigkeit, ethisch begründete Urteile zu fällen, notwendig. Sowohl Führungskräfte als auch ihre Mitarbeiter müssen Zivilcourage zeigen, Regeln und Normen kritisch hinterfragen, internen und externen Ungerechtigkeiten entgegenwirken sowie ihre Digitalexpertise sozial interagierend vorantreiben, um so frischen Wind in ihren Bereich zu bringen.
Wenngleich es die Aufgabe des Digital Leader ist, andere Personen im Sinne des Anleitens zu führen, hat er auch andere und gegenläufige Ideen und Gedanken von Mitarbeitenden und Stakeholdern anzuhören und gegebenenfalls aufzugreifen, denn dies ist die Chance zu einem Perspektivwechsel und einer Horizonterweiterung. Im Hinblick auf die Horizonterweiterung sind zeitgemäße Tools nützlich. Führungstools sind die Mittel, die eine Führungsperson benötigt, um Führung in der nunmehr stark oder sogar hauptsächlich digital geprägten Arbeitsrealität zu realisieren. Beispielhaft können hierfür die Tools Learning Journeys, Reverse Mentoring, Instant Feedback, Design Thinking, Scrum, Trello, Yammer, Slack oder Deon erwähnt werden, die insbesondere online ein kooperatives Arbeiten und digitales Kommunizieren ermöglichen.
Zusammenfassung und Appell
Digital Leadership ist das Komplement, das zur Bewältigung der mit VUCA einhergehenden veränderten Arbeitsbedingungen erforderlich ist, indem es die Arbeitsbedingungen wie auch das Denken der Mitarbeitenden und anderer an dem Prozessbeteiligten verändert. Ethische Verantwortung wie die Notwendigkeit zur Digitalisierung sind also komplementär zu verstehen und auf dem Weg, die traditionelle „Profit-First-Doktrin“ aufzuheben. Die Berücksichtigung der Persönlichkeiten und Qualifikationen der Mitarbeitenden ist hierbei zentral, was eine hoch entwickelte Anpassungsfähigkeit der Führungskraft angesichts der Diversität der Mitarbeitenden erfordert.
Führungskräfte in den Unternehmen übernehmen die Aufgabe, diese Prozesse gemäß ethischen Regeln, gesellschaftlich legitimierten Zielen bzw. internationalen Rahmenwerken wie den Sustainable Development Goals einzuleiten und so zu kommunizieren, dass ein möglichst reibungsloser Übergang in die digitale singuläre Zeit ermöglicht wird. Es ist wichtig, Digital Leadership sozial nachhaltig derart zu gestalten, dass der Mensch in der digitalen Transformation stets an der Gestaltung von Arbeitsprozessen beteiligt bleibt und sein soziales Wohlbefinden bewahrt wird.
Saboor Jamil
lehrt und forscht an der HAW Hamburg zum Thema Digital Leadership
saboor.jamil@haw-hamburg.de
„Digital Leadership in der VUCA-Welt“ von Saboor Jamil ist erschienen im CSR MAGAZIN Nr. 36. Der Text ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz.